Dystopie trifft Hoffnung

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Bremen, 07.04.2023 (Christian Habeck) Seit mehr als zwei Jahrzehnten bin ich ein leidenschaftlicher Anhänger von Goethes Erben, einer deutschen Band, die 1989 von Oswald Henke und Peter Seipt ins Leben gerufen wurde. Die Gruppe war in den frühen 1990er Jahren ein Pionier der deutschen Dark-Wave- und Gothic-Bewegung, bevor sie sich in den mittleren 1990ern stilistisch wandelte und eher rock- und avantgardistische Werke veröffentlichte. Oswald Henke, der in Bayreuth lebt, plante ursprünglich, im Jahr 2020 den 31. Geburtstag seiner Band Goethes Erben mit eigenen Festspielen zu feiern. Doch die Corona-Pandemie zeigte keine Gnade und das Festival musste abgesagt werden.

Stattdessen fand am 19. September 2020 ein "Seuchen-Konzert" unter strengen Auflagen statt. Vor kurzem hatte ich das Vergnügen, das erste von drei exklusiven Konzerten im Bremer Kulturzentrum Schlachthof zu besuchen. Der Veranstaltungsort war eine perfekte Wahl, da der industrielle Charme des alten Schlachthofs wunderbar zur Musik von Goethes Erben passte. Als ich darüber nachdachte, wie ich zum Fan von Goethes Erben wurde, fiel mir ein, dass es die Verwendung von deutschen gesprochenen Texten in ihrer Musik war, die mich ursprünglich faszinierte. Der Bandname ist eine Hommage an die deutsche Sprache und verkörpert genau diese Idee. Ihre als "Musiktheater" bezeichneten Auftritte sind musikalische, avantgardistische Inszenierungen, die mich jedes Mal aufs Neue fesseln.

Die Entstehungsgeschichte von Goethes Erben geht auf das Jahr 1989 zurück, als Oswald Henke und Peter Seipt, die sich während ihrer Krankenpflegeausbildung im selben Krankenhaus kennenlernten, die Band gründeten. Henke hatte bereits Theatererfahrung gesammelt, während Seipt in verschiedenen Bands aktiv war. Der Name "Goethes Erben" ist laut Henke eine Hommage an die deutsche Sprache und soll viel über ihre Musik aussagen. Diese Hintergrundinformationen haben meine Wertschätzung für die Arbeit von Goethes Erben noch weiter verstärkt. Ihre Musik und Live-Performances sind für mich eine beeindruckende Verschmelzung von Poesie, Musik und Theater, die ich immer wieder gerne erlebe und schätze. Umso schockierender war es für mich zu erfahren, dass sich nach der Veröffentlichung des zehnten und letzten Studioalbums "X" von Goethes Erben ein Bandmitglied aus der aktuellen Liveband vorerst von der Bühne verabschieden würde. Diese drei besonderen Abende sollten jedoch keineswegs das Ende von Goethes Erben markieren, sondern vielmehr den Abschluss einer bedeutenden Schaffensperiode. Obwohl das letzte Studioalbum veröffentlicht wurde, versicherte die Band, dass es in Zukunft noch neue Stücke geben würde, die jedoch auf andere Weise präsentiert werden.

Um diesen Doppelabschied angemessen als Abschluss einer Schaffensperiode zu feiern, entschieden sich Goethes Erben, an drei Abenden noch einmal das komplette X“ Album zu spielen. Zwar soll das Bühnenbild und die Inszenierung für diese Abschlusskonzerte nicht mehr ganz so aufwendig wie bei der Uraufführung in Bayreuth 2022 gestaltet worden sein wie mir treue Fans schilderten, doch alle kreativen Beteiligten dieser Premiere waren mit dabei. Und so war es für mich eine unglaubliche Freude und Ehre, gestern Abend beim ersten der drei exklusiven Konzerte in Bremen dabei sein zu dürfen. Nicht nur, weil ich die Band seit über 20 Jahren liebe, sondern auch, weil es ein ganz besonderes Event war: Eines der ganz wenigen Konzerte oder Musiktheater-Stücke bei denen die Songs ihres zu Ostern erscheinenden neuen Studioalbums "X" komplett zu hören waren.

Schon zu Beginn des Konzerts um 21:00 Uhr wurde klar, dass es ein Abend voller düsterer, dystopischer Klänge werden würde. Mit den Worten "Die Zukunft heißt: Tod" eröffneten Goethes Erben das Konzert und entführten uns in ihre faszinierende, aber auch erschreckende Welt. Oswald Henke, Tobias Schäfer, Markus Koestner und Tom Rödel präsentierten uns das gesamte neue Album in chronologischer Reihenfolge, begleitet von der talentierten Tänzerin Ida Gross. Oswald Henke hatte im Vorfeld der Tour erklärt: „Es beginnt düster, bleibt düster und wenn man denkt, es geht nicht noch düsterer, wird man überrascht. Erst bei den Zugaben wird es wohl auch hoffnungsvollere Stücke geben.“

Kein Wunder, denn das Album "X" entstand inmitten der Hochzeit von Corona. Muntere Melodien waren unter diesen Umständen nicht zu erwarten, sondern eher dystopische Klangwelten. Dies spiegelte sich auch in den Bühnenkostümen der Band wider. Im Gegensatz zu den weißen Kostümen während der „Am Abgrund“-Tournee 2018, waren diesmal schwarze Outfits angesagt.

 

Das „X“-Logo aus Stacheldraht war jeweils auf den Jacken der Musiker aufgenäht, quasi als Symbol für das Gefängnis, in dem wir alle dank der Pandemie lange Zeit ausharren mussten.

Als ich das sah, fühlte ich mich gleichzeitig berührt und beeindruckt von der eindrucksvollen Darstellung dieser schwierigen Zeit. Es war beeindruckend, wie die Band es schaffte, die komplexen Themen der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihren Liedern und Inszenierungen einzufangen. Die Musik, Sprache, Tanz und Projektionen verschmolzen zu einem introvertierten Spiegelkabinett bizarrer deformierter Wahrnehmungslügen. Man konnte förmlich spüren, wie sehr sich die Musiker in diese düstere Atmosphäre hineinversetzten und uns, das Publikum, mit auf diese Reise nahmen.

Nach einer kurzen Pause kehrte die Band jedoch mit etwas Hoffnung zurück. Sie unternahmen eine musikalische Reise durch 30 Jahre Bandgeschichte und spielten viele ihrer Klassiker sowie Zitate aus zurückliegenden Musiktheaterstücken. Dabei gewährten sie uns auch klangliche Einblicke in ihre neun vorangegangenen Studioalben. Es war wunderbar, diese vielfältige Auswahl an Stücken aus verschiedenen Schaffensphasen der Band live zu erleben und dabei in Erinnerungen zu schwelgen. Besonders beeindruckend war, wie gut die Inszenierung auf die Bühne des Bremer Schlachthofs abgestimmt war. Das machte den Abend zu einem absolut einmaligen Erlebnis, das sich kein Goethes Erben-Fan entgehen lassen sollte. Es ist schwer, in Worte zu fassen, wie emotional dieser Abend für mich war. Ich hatte Gänsehaut, als ich meine Lieblingslieder live hörte und gleichzeitig in die faszinierende Welt des neuen Albums eintauchte. Die Band bewies einmal mehr, dass sie nach all den Jahren immer noch in der Lage ist, ihre Zuhörer tief im Innersten zu berühren und zum Nachdenken anzuregen.

Abschließend kann ich nur sagen, dass dieses exklusive Konzert von Goethes Erben ein unvergessliches Erlebnis war, das mir noch lange in Erinnerung bleiben wird. Die Band hat es geschafft, trotz der düsteren und dystopischen Thematik des neuen Albums, Hoffnung und Licht am Ende des Tunnels zu vermitteln. Die Mischung aus alten Klassikern und neuen Stücken, die uns auf eine musikalische Zeitreise mitnahmen, war einfach überwältigend. Die Nähe zur Band, die intime Atmosphäre des Zentrums in Bayreuth und die Tatsache, dass dieses Konzert das einzige seiner Art war, machten den Abend noch besonderer. Ich konnte förmlich spüren, wie sich die Emotionen im Raum aufbauten und eine einzigartige Verbindung zwischen den Musikern und dem Publikum entstand.

Als ich nach dem Konzert nach Hause ging, fühlte ich mich gleichzeitig erschüttert und inspiriert. Erschüttert von den düsteren Themen, die Goethes Erben in ihren Liedern aufgriffen, und inspiriert von der Kraft und Leidenschaft, mit der sie diese präsentierten. Es war ein Wechselbad der Gefühle, das mich noch lange beschäftigen wird. Ich kann jedem, der die Möglichkeit hat, ein Konzert von Goethes Erben zu besuchen, nur ans Herz legen, dies auch zu tun. Die Band hat es geschafft, eine einzigartige musikalische Identität zu entwickeln, die in der heutigen Musiklandschaft ihresgleichen sucht. Ihre Kombination aus düsterer Poesie, eindringlichen Melodien und packenden Live-Performances ist etwas, das man einfach selbst erleben muss, um es wirklich zu begreifen.

Um es zusammenzufassen, war das exklusive Konzert von Goethes Erben im Bremer Schlachthof ein unvergesslicher Abend, der mich tief bewegt hat. Die Band hat einmal mehr bewiesen, dass sie trotz – oder gerade wegen – der düsteren Thematik ihrer Musik in der Lage ist, ihre Zuhörer zu inspirieren und ihnen neue Perspektiven auf die Welt zu eröffnen. Ich bin dankbar, Teil dieses besonderen Abends gewesen zu sein und freue mich bereits jetzt auf zukünftige Konzerte und Projekte von Goethes Erben. Wenn auch mit neuer Besetzung.