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Vergiss kein einziges Wort

von Dörthe Blinkert

Klappentext: Drei Epochen, drei Frauen, drei Schicksale. In den Geschichten von Martha, Maria und Magda im schlesischen Gleiwitz spiegelt sich die Geschichte einer Grenzregion wider: die Geschicke von Deutschen, Polen und Tschechen, Christen und Juden, die liebten und hassten, Familien gründeten und einander verließen, vertrieben wurden und sich wieder begegneten. Gekonnt spannt Dörthe Binkert den großen Bogen von den 20er- bis zu den ausgehenden 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Mit viel Gespür und noch mehr Herzblut zeichnet sie das Porträt einer Zeit und einer Region, in der Freude und Leid nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt waren.
Alles beginnt mit Luischens Geburt 1921 im Jahr der schlesischen Teilung. In der Gleiwitzer Paulstraße. Und es endet mit der Besuch der 83-jährigen Luise 2004 im polnischen Gliwice. Dazwischen liegt fast ein Jahrhundert dramatischer Geschichte.

Rezension: Auf den inneren Klappenseiten findet man Kartenübersichten über die Teilung Schlesiens. Auch sind die Orte in Schlesien und Polen eingezeichnet, die in Dörthe Binkerts Saga über die Familie Strebel und ihrer Verwandtschaft, ihren Freunden, der Hausgemeinschaft, die in den letzten Kriegsjahren einmal komplett ausgetauscht wird durch die russische Besatzungsmacht. Diese Orte sind die Schicksalsorte der Protagonistenfamilie Strebel.
Der Autorin gelingt es die Leser*innen in eine Epoche zu versetzen, die langsam in Vergessenheit gerät. Die Zeitzeugen werden immer weniger. Aber zum Glück gibt es gut geführte Chroniken, auch in der ehemaligen Stadt Gleiwitz, heute Gliwice. Zu Beginn der Erzählung liegt ein immerwährender schwarzer Schleier über der Stadt, es ist eine Bergarbeiterstadt, hier wird schon jahrzehntelang Kohleabbau betrieben.

Oberschlesien hatte schon immer Berührungspunkte mit Polen, als Energieversorger und Verkehrsknotenpunkt. Hier lebt Carl Strebel als Bahnbeamter friedlich nachdem der große Krieg überstanden ist. Bald schon muss er sich jedoch damit auseinandersetzen, dass seine Söhne in Streit geraten. Während Konrad mit seiner polnisch-stämmigen Frau ein eher unpolitisches Leben führen möchte, strebt Heinrich schon früh nach einer Parteikarriere. Heinrich und seine linientreue Ehefrau lehnen alles polnische, einschließlich der „halbdeutschen“ Ehefrau Konrads ab.

Die Mädchen der Familie gehen ihren Weg, Hedwig, wird Krankenschwester. Sie ist sehr resolut und weiß sich durchzusetzen. Ihre Liebschaft mit einem verheirateten Arzt verläuft allerdings nicht wie erhofft. Hedwig pflegt ihre kränkelnde Mutter Martha aufopferungsvoll, sie hält die Familie auch in den schweren Zeiten zusammen.
Ida ist ein Schöngeist, nach einer Schneiderlehre entwirft sie bald ihre eigene Mode. Sie verlässt Gleiwitz recht früh, um in der Großstadt ihr unkonventionelles Lebensmodell zu leben. Die ruhige und introvertierte Schwester Klara führt Ida den Haushalt, sie zeigt jedoch Rückgrat und Mut, als Ida in Gefahr durch die NSDAP gerät. Auchh in Schlesien ist die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung mit all ihrem Hass und Schrecken angekommen. Das ändert sich auch nicht unter den russischen Besatzern und den neuen polnischen Bürgern, bis weit in die 60er Jahre. Und schließlich die Hauptfigur Emma Luise, von allen nur Luischen genannt, mit einem Faible für Mathematik, ihre beste Freundin Magda, lebensfroh und praktisch veranlagt.

 
Gesamtbewertung:

Erscheinungstermin: 13.11.2020 als Taschenbuch
Genre: historische Familiensaga
Einband: broschierter Einband
Seitenzahl: 670 Seiten
ISBN: 978-3-423-26280-4

Autorin: Dörthe Binkert, geboren in Hagen/Westfalen, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Politik. Nach ihrer Promotion hat sie viele Jahre für große deutsche Publikumsverlage gearbeitet. Seit 2007 ist sie freie Autorin und lebt in Zürich.

Verlag: dtv Verlag

Über Jahrzehnte von 1921 bis 2003 beschreibt Dörthe Blinkert die geschichtlichen Ereignisse in und um Oberschlesien, dem heutigen polnischen Slask.
Das Misstrauen, die Verlustängste, die Trennungen und Entbehrungen und Demütigungen auf allen Seiten in den Bevölkerungs- und Religionsgruppen von Polen, Deutschen, Christen, Katholiken und Juden sind teils ungerecht verteilt. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges müssen sich Luise, Magda und die junge Witwe Maria arrangieren, dazu gehört auch die polnische Sprache zu erlernen und sich möglichst unauffällig anzupassen.

Nach und nach beantragen viele deutschstämmige Schlesier die Ausreisepapiere in den Westen. Ob die Familienzusammenführung der Strebels gelingt liegt auch im Ermessen der Behörden. Luise kehrt mit ihrer Enkelin 2003 noch einmal nach Gliwice zurück. Sie sehnt sich ihr ganzes Leben lang nach einer Person, zu viele Fragen sind noch offen. Im Archiv von Gliwice findet sie eine Adresse und Anhaltspunkte zu der vermissten Person.

FAZIT: Dörthe Blinkert ist hier ein starker und emotionaler Familienepos um eine Arbeiterfamilie aus Schlesien gelungen. Über 600 Seiten, gespickt mit den Eigenarten dieser Region, auch die der polnischen, lebensfrohen Menschen, die doch so oft von den Großmächten und Diktaturen hin- und hergeschoben werden. Aber auch die herzhaften Kochrezepte und alten Rituale zu Weihnachten, Ostern usw. sind liebevoll erwähnt. Ein schlesisch-polnischer Reiseführer quasi. Einige Gerichte habe ich wiedererkannt, durch Erzählungen meiner Schwiegermutter.
Die Autorin hat eine sehr fundierte Recherche in den Chroniken von Gliwice betrieben. Auch im Glossar sind die geschichtlichen Hintergründe sehr gut dokumentiert. Eine Familienchronik macht das Kennenlernen der einzelnen Personen und Verzweigungen der Hausgemeinschaft und der Freunde der Familie einfacher, so können die Leser*innen sofort mit der Familie Strebel leben, lachen und leiden.

Eine wunderbare Zeitgeschichte, zu gerne möchte man doch mehr erfahren, wie es den Kindern und Enkeln der Familie Strebel hier ergangen ist. Nicht verschwiegen werden in diesem Roman ist auch der Part über Vertreibung, Krieg, Hetze und politischer, radikaler Kampagnen. Immer wieder und immer noch aktuell.