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Sophies Tagebuch

von Nicolas Remin

Ein historischer Familienroman der in zwei Zeitsträngen hauptsächlich in Berlin spielt, aktuell in der Zeit kurz vor dem Mauerfall 1989 und in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur in den Jahren 1939 bis 1945. Nicolas Remin hat einen sehr sachlichen, aber dennoch bildhaften und zum Teil spannungsgeladenen Erzählstil. So schildert er die menschlichen Schwächen und Krankheiten seiner Protagonisten sehr detailliert, so dass man z.B. jede einzelne Magenfalte im Gesicht von Sophies Onkel aus Ostberlin erkennt. Auch Sophies Panikattacken und anfängliche soziale Abschottung erlebt und erspürt der Leser sehr intensiv durch die einzelnen Seiten.

Erika zur Linde, eine Lehrerin, die als graue Maus durch das Leben huscht, ist geschieden, ihre Mutter Sophie verstarb früh, Erika war damals erst 15 Jahre alt. Ihr Vater hat noch zu Lebzeiten der Mutter beschlossen, sie in ein Internat zu geben. Er lebt sehr in der Vergangenheit der 40er Jahre, als hochdekorierter Kriegsheld und Verfasser eines Kriegsromans. Zu ihm hat Erika von je her ein sehr distanziertes Verhältnis – warum kann sie sich nicht erklären. Ihre junge, fröhliche und bildschöne Mutter ist eine glorifizierte und unerreichbare Person gewesen, trotz allem vermisst Erika sie schmerzlich. Allerdings sieht Erika sich selbst als hässliches Entlein, dies ist auch die Meinung ihres Ex-Mannes. Die Schönheit und natürliche Eleganz der Mutter ist ihr nicht in die Wiege gelegt worden, so hat sie ein total verzerrtes Selbstbildnis.

Aber ganz pflichtbewusst besucht Erika ihren Vater alle paar Wochen zu einem Sonntagsessen in der alten und dunklen Villa in einem mondänen Berliner Vorort. Seit dem Tod ihrer Mutter wird er von einer Haushälterin versorgt. Diese Routine wird eines Tages durch eine schockierende Nachricht der Haushälterin unterbrochen, sie ruft während der Unterrichtszeit in Erikas Schule an. Sie eilt zur Villa ihrer Familie und findet ihren Vater tot vor. Sophie erhält eine Erbschaft, die ihr bei der Testamentseröffnung durch einen Notar, gleichzeitig ein langjähriger Freund ihres Vaters, eröffnet wird.

Sie stöbert im Nachlass, auch betritt sie nach langer Zeit wieder das persönliche Zimmer ihrer Mutter. Im alten Sekretär ihrer Mutter findet sie ein Tagebuch. Die ersten Zeilen in der Handschrift ihrer Mutter beginnen am 20. April 1939, eines zu der Zeit 19-jährigen naivem und linientreuen Mädchens, mit den Worten „Heute habe ich den Führer zum ersten Mal aus der Nähe gesehen.“

Auf dem Schreibtisch, in dem immer sorgsam verschlossenen Arbeitszimmer, ihres Vaters findet sich ein Brief mit aktuellem Datum des Jahres 1989. Der Brief ist in den USA abgeschickt, darin fragt ein gewisser Paul Singer nach dem Verbleib und das ungeklärte Schicksal seines Onkels Dr. Felix Auerbach. Sophies Vater und ihre Mutter haben ihm, einem Juden, wohl ein geheimes Versteck geboten. Singer erhofft hier in Berlin Antworten zu finden. Die letzten Augenzeugen berichteten über die Deportation Auerbachs im Jahr 1945. Doch nach dem Erhalt des Briefes ist Sophies Vater, Ulrich zur Linde, den Antworten ausgewichen, auf seine Art und Weise.

Die Recherchen stellen Erikas bisheriges Lebensmodell auf den Kopf, viele Wahrheiten und Tatsachen geraten aus den Fugen, ein immer schneller drehendes Kaleidoskop von Lebenslügen, aber auch Mut und Zusammenhalt in einer menschlichen Schicksalsgemeinschaft, die zum Teil bis in höhere militärische Ränge reicht, kommt nach und nach zu Tage. Nun ist es an der jüngeren Generation, zu vergeben, zu verstehen und zu begreifen.

 
Gesamtbewertung:

Erscheinungstermin: 17.12.2019
Genre: Familiendrama
Einband: Flexibler Einband
Seitenzahl: 416 Seiten
ISBN: 9783499273469

Autor: Nicolas Remin ist ein 1948 in Berlin geborener deutscher Schriftsteller. Nach seinem Studium arbeitete er als Synchronautor und Synchron-regisseur. Erst im Jahre 2001 veröffentlichte er seinen ersten historischen Roman "Schnee in Venedig". Alle seine bisher erschienen Romane spielen im Venedig des 19. Jahrhunderts um Commissario Tron, der diverse Mordfälle klären muss.

Verlag: Rowohlt Taschenbuch-verlag

FAZIT: Ein sehr spannendes Stück Zeitgeschichte. Durch zwei Schriftarten ist man nicht allzu irritiert, die Tagebucheintragungen von Sophie sind so schon rein optisch von den Ereignissen rund um den Mauerfall 1989 getrennt. Zum Schluss des Romans fließen sie dann ineinander über.

Ich gebe eine klare Leseempfehlung für dieses Buch. Sehr schön für den Leser, dass der Autor Nicolas Remin, seinen Commissario Tron und Venedig verlassen hat, um diesen historischen und authentischen Roman zu verfassen. Ich freue mich auf einen weiteren Band in dieser Richtung von Nicolas Remin.