CURSIVE: "Vitriola"
Schon seit über zwei Jahrzehnten ist die aus dem amerikanischen Nebraska stammende Band ‚Cursive‘ nun bekannt dafür, intelligente, eng verwobene Konzeptalben zu schreiben, in denen Frontmann Tim Kasher seinen unnachgiebigen Blick auf bestimmte, oft herausfordernde Themen richtet und sie mit einer brutalen Ehrlichkeit erkundet. 2000 lernte er in ‚Domestica‘ mit seiner Scheidung umzugehen; 2003 erforschte ‚The Ugly Organ‘ Kunst, Sex und Beziehungen; ‚Happy Hollow‘ nagelte 2006 organisierte Religion ans Kreuz; 2009 kämpfte Kasher auf ‚Mama, I’m Swollen‘ mit dem Zustand der Menschlichkeit und sozialer Moral; und ihr letztes Album ‚I Am Gemini‘ handelte von dem Kampf zwischen Gut und Böse. Aber das bemerkenswerte achte Studioalbum der Band, ‚Vitriola‘ erforderte eine andere Herangehensweise - eine weniger streng thematische und zugänglichere, da die Band diesmal mit Existenzialismus kämpft, der in Richtung Nihilismus und Verzweiflung abwandert; die Art und Weise, wie die Gesellschaft, ähnlich wie ein Schriftsteller, schafft und zerstört; und eine sich weiter nähende Dystopie, die sich unheimlich nah anfühlt.
Was uns ins Jahr 2018 und somit zu ‚Vitriola‘ bringt. Zum ersten Mal seit ‚Happy Hollow‘ vereinigt das neue Album Kasher, Gitarrist und Sänger Ted Stevens und Bassist Matt Maginn mit Gründungsmitglied und Schlagzeuger Clint Schnase, sowie Co-Produzent Mike Mogis, der das Album gemeinsam mit der Band im ‚ARC Studio‘ in Omaha aufgenommen hat. Dazu stoßen wieder Patrick Newbery am Keyboard (der schon seit einigen Jahren ein vollwertiges Mitglied der Band ist) und Megan Siebe am Cello. Schnase und Maginn sind in einer außergewöhnlichen Verfassung und machen mit ihren markerschütternden Bässen und Toms genau da weiter, wo sie aufgehört haben und bilden das Gerüst für Kashers und Stevens ineinandergreifende Gitarren, sowie Newberys und Siebes cineastische Verzierungen. Das neue Album präsentiert eine klangliche Bandbreite zwischen satten, nachhallenden Melodien, hitchcockartiger Angst und explosiver Katharsis – und kein ‚Cursive‘ Album wäre komplett ohne schreiende Singalong-Melodien und Texte, die nach genauer Betrachtung, zu ungewöhnliche Hymnen werden. Der feurige Opener ‚Free to Be or Not To Be You and Me‘ spiegelt den Kern des Albums wider: eine Suche nach Bedeutung, die immer wieder ins Leere läuft und den Willen, trotz der Angst vor einer dunklen Zukunft weiterzumachen. Das Album lenkt Frustration und Wut nicht nur auf die moderne Gesellschaft und das gesamte Universum, sondern auch auf uns selbst. Auf ‚Under The Rainbow‘ kocht Unruhe in Wut über, die die Selbstzufriedenheit der privilegierten Klassen anklagt; und ‚Noble Soldier / Dystopian Lament‘ ist ein eindringlicher Blick auf einen möglichen gesellschaftlichen Kollaps, der wenig Hoffnung bietet, aber versucht Schönheit und Schrecken auf dem Kopf einer Nadel auszubalancieren.
FAZIT: Ein eindringliches Album, das zuweilen bewusst verstört, aufrüttelt und alles andere als seichte Wohlfühlmusik bietet. Der Hörer wird auf bewundernswert durchdachte Art und Weise aus seiner Wohlfühlzone gelockt und dazu gebracht nachzudenken, sich bewusst mit den Themen der Texte auseinanderzusetzen – wobei die Musik gerade wegen all der Ecken und Kanten eingängig ist, und sich dem Hörer einprägt. Hier wird einem mehr geboten, als man es von der Musik unserer Tage eigentlich gewohnt ist. Dafür gibt es wohlverdiente 10 vpn 10 möglichen Punkten. |
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