Wanhöden, 21.06.2024 – Letzter Festivaltag. Da Unwetter angesagt war, brachten viele schon Mittags bei sengender Hitze ihre Festivalausrüstung über die staubigen Wege zu den Fahrzeugen oder trugen ihre Heimreise an. Wem mittlerweile zu viel Trubel und Lärm ist und eine Auszeit benötigte, konnte in den neuen Bereich der Talking Trees gehen. Hängematten, Schaukeln, geräuschunterdrückende Kopfhörer und Seelsorger sind in diesem Zufluchtsort vorhanden.
Für das Frühsport Secial zum Mittag waren an diesem Tag das deutsche Rap-Duo 257ers zuständig, Schaumkanone inklusive. Seit rund zwei Jahrzehnten gehört die Pop-Punk-Band Itchy, früher unter dem Namen Itchy Poopzkid aktiv, schon zum festen Bestandteil zur deutschen Punkszene und auch beim Deichbrand waren sie bereits zum 5. Mal dabei. Mit neuem Album „DIVE“ (unsere –> Rezension) geht’s in diesem Jahr wieder auf eine große Deutschlandtour und sie machten bei Deichbrand halt und spielten ihre krachenden, englischsprachigen Songs.
© Nordevents (Antje und Wolfgang Karg) – Impressionen
Die deutsche Mittelalter-Rock-Band Saltatio Mortis treibt sich sonst meist als Headliner auf Mittelalterfestivals herum, nun sind sie erstmalig bei Deichbrand. „Finsterwacht“ (unsere → Rezension) ist bereits das 13. Album des Spielmannstrupps. 21 Jahre ist es indessen her, dass diese Band ihre ersten Auftritte hatte; damals standen die Musiker mit Trommeln und Sackpfeifen an Straßenecken herum und spielten für das Geld, das man ihnen in die Hüte warf. In der Zwischenzeit ist viel passiert, man glänzt mit vier Nummer-Eins-Alben und mit einer goldenen Schallplatte. Ihr Geheimtipp: Kräftigen Rock und zarter Folk. Bei 30 Grad Mittagshitze und brennender Sonne war es uns zum Fotografieren schon zu heiß. Umso erstaunlicher, wie Jörg Roth (Alea der Bescheidene) auf der Bühne herumwirbelte. Hin und her, Sprünge von der Bühne auf die Ausleger, wieder zurück und dann noch Singen und das nicht nur bei den ersten Songs – die Muckibude hat sich gelohnt. Was für ein Abriss. Die Band kann gerne wiederkommen.
Die Indie-Rock-Band Kaffkiez stand vor ein paar Jahren auf der kleinen Bühne im Zelt, nun performten sind sie auf der Water Stage. Ganz großer Bahnhof, auch was das Bühnenbild betraf. Die Hip-Hop-Band Antilopen Gang brachte dann die Crowd zum Tanzen. Sänger Daniel Pongratzaka aka Danger Dan setzte sich auch ans elektronische Klavier um solo zu performen wie seinen bekannten Song „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt„. Das er nebenbei anmerkte, man solle doch im Store eine Produktumverteilung machen weil alles allen gehört, somit zu einer Straftat aufrief, sorgte sofort für viel Kritik. Die deutsche Rapcrew 01099 mit Gustav, Zachi, Paul und Dani machten im Norden die Postleitzahl von Dresden-Neustadt bekannt und brachten nicht nur mit Spielchen wie „Hinsetzen und Aufspringen“ die Menge in Bewegung.
Popmusiker Axel Bosse war auch mal wieder in Nordholz, schnelles Schwitzen inklusive, so dass er sogar deswegen Rückkopplungen in seinen In-Ears hatte. Mit seiner Euphorie steckt er das Publikum an, das sofort mittanzt und die Hände in die Luft reißt. Eine Aufwärmphase gibt es nicht, der Charme des Musikers greift direkt über. Seine Fans träumen sich weg mit Bosse, auch mit Liedern seines neuen Albums „Übers Träumen“. Für das vierte Lied hatte er den Kiezchor Hansemädchen mitgebracht. Während seines Auftrittes begann es leicht zu winden und regnen. Die angekündigten Unwetter streiften zum Glück am Festivalgelände vorbei.
Über Clueso hatten wir zuletzt vom NDR 2 Plaza Festival in Hannover berichtet. Er ist seit rund zwei Jahrzehnten aus der Musikszene Deutschland nicht mehr wegzudenken. Nach acht vor allem mit Gold oder Platin ausgezeichneten Studioalben, mehr als 100 Millionen Streams sowie Tourneen durch die größten Hallen und Festivals des Landes performte er mal wieder beim Deichbrand. „Flugmodus“, „Cello“, „Gewinner“, „Chicago“, „Keinen Zentimeter“, „Neuanfang“ und viele andere Songs sang er an diesem Tag.
© Nordevents (Antje und Wolfgang Karg) – Saltatio Mortis, Kaffkiez, Antilopengang, Tyna und 01099
Alligatoah brachte das Büro auf die Bühne
Seeed-Sänger Peter Fox war mal wieder solo unterwegs. Na ja, nicht ganz. Er brachte einen Co-Sänger, viele Musiker und gut 50 Tänzer:innen mit. Und wäre die Bühne damit nicht schon voll genug, durften einige Zuschauer noch mit auf die Bühne. Im großen Lettern prangte der Titel seines zweiten Soloalbums „LOVESONGS“. Als er mit „Augenbling“ einen Klassiker seiner Band Seeed performt, gibt es vor der Bühne kein Halten mehr. Auch „Stadtaffe“ und „Alles Neu“ brachten die Fans sofort auf Temperatur. Wem da nicht das Tanzbein zuckte, war selber Schuld.
Lokalmatador Lukas Strobel, aus Langen bei Bremerhaven, den Meisten aber als Alligatoah bekannt, erfindet sich immer wieder neu. In seinen Texten schlüpft er in unterschiedliche Rollen, um sich mit gesellschaftlichen Themen auf ironische oder zynische Weise auseinanderzusetzen. Ende 2023 streute er einige Hinweise, die auf sein Karriereende hindeuteten. Das entpuppte sich bald allerdings nur als cleverer Promo-Stunt.
„Einige müssen von euch morgen ins Büro, somit habe ich mal das Büro auf die Bühne geholt“ meinte Lukas, der sich anfänglich im übergroßen Videocall bei seinen Bürokollegen meldete, um dann mit viel Lametta im roten Trainingsanzug mit Fellmantel und -schuhen auf dem Schreibtisch zu stehen. Im März 2024 droppte der deutsche Künstler sein siebtes Studioalbum und schlug mit “Off” einen neuen Weg ein: Der Longplayer ist zum Teil im Genre Metal angesiedelt. Somit wurde es bereits beim 2. Song etwas härter mit kreischenden Gitarren und Chaos im Büro.
Im Palastzelt eröffnete Tyna die musikalische Sause. Ungeschminkte Texte und Charisma, verbunden mit einer ordentlichen Portion Punkrock! Mit ihren letzten Singles setzte die Wahlhamburgerin TYNA ein Zeichen im deutschsprachigen Alternative Rock. Auch Songs ihres neuen Albums „PNK“ (unsere –> Rezension) waren auf der Setlist. Leider war das Zelt nur mäßig besetzt, schade, denn die Band ist nicht schlecht.
© Nordevents (Antje und Wolfgang Karg) – Kytes, Bosse, Clueso, Peter Fox und Alligatoah
Die Indieband Kytes aus München ist das Gegenteil von verkopft – ihre Songs strahlen eine große Leichtigkeit aus, sind verspielt und dabei extrem tanzbar. Kytes haben über 100 Millionen Streams gesammelt und gehen im Oktober auf UK-Tour. Der aufstrebende Rapper Lostboi Lino spielte die erste eigene Tour in restlos ausverkauften Clubs. Was man erwarten durfte? Zu viel Gitarren für Rap, zu viel Grunge für Indie und zu poppig für Rock.
Weil er als Kind in der Thüringer Heimat viel „Olsenbande“ geguckt hat, heißt der Musiker Manuel Bittorf „Betterov„, eine Nebenfigur der Kultserie. Die Zuschauer lauschen seinen Songs vom Debütalbum „Olympia„. Es dauerte erstaunlich lange, bis das Eis zwischen Betterov und Fans gebrochen war. Monsters of Liedermaching, die 2003 gegründete Formation aus sechs gemeinsam auftretenden Solo- beziehungsweise Kleingruppen-Liedermacher-Künstlern brachten zeitlose Hymnen mit Humor, Herz und Hirn ohne prätentiös-polemische Ellenbogenlyrik.
Die finnische Nu-Metal-Band Blind Channel, bekannt für ihre energiegeladenen Auftritte, hatte Finnland beim Eurovision Song Contest 2021 vertreten. Mit dem Song „Dark Side“ erreichte sie den sechsten Platz und durfte auch bei Deichbrand nicht fehlen. Die Musik des österreichischen Rappers Bibiza (Franz Bibiza) beinhaltet Einflüsse aus Pop, Funk-Rock, primär der 1980er-Jahre, elektronischer Musik und Hip-Hop. Ganz eindeutig bezog BIBIZA Inspiration von Falco, dessen Themen, Style und auch Stimmfarbe ins 21. Jahrhundert transportiert. BIBIZA schafft es aber trotz aller Ähnlichkeiten durch die vielen Interludes eine breite Palette an rocklastigen, tanzbaren aber auch sentimentalen Momente zu schaffen.
Pop-Punk mit sphärischen Synthesizer-Flächen und prägnanten Elektro-Elementen prägen den neuen CASINO BLACKOUT Sound. Sie eröffneten den Tag in der Jever Hafenbar, gefolgt von der sechsköpfigen australischen LGBTI-lastigen Band Gut Health mit ihrem Art-Punk. Kafvka haben im letzten Monat ihr neues Studioalbum „Kaputt“ veröffentlicht (unsere → Rezension). Songs davon durften auf der Setlist nicht fehlen.
Wenn der Magen knurrt…
Pizza, Pasta, Döner -ok-, aber hat schon jemand mal ein Fischbrötchen auf dem Festival gegessen? Schließlich sind wir hier im Norden. Nein? Dann war der Abstecher zu Underdocks zu empfehlen. Seit 6 Jahren gibt es das Seefood Restaurant Underdocks in Hamburg, mittlerweile auch mit einem Standort an den Landungsbrücken. Man entschied sich während Corona auch ins Streetfoodgeschäft einzusteigen und so versuchte man es auf dem Elbjazz Festival. Das hatte sich bewährt und nun werden die „Fischbrötchen 2.0“ auch auf dem Deichbrand angeboten. Das sind beidseitig getoastete Brötchen gefüllt entweder mit marinierten Black-Tiger Garnelen (sehr zu empfehlen), mit confierten Lachs oder als vegane Variante, die mittlerweis schon 25 % des Umsatzes ausmacht. Das Unternehmen hat zwar für dieses Jahr die Festivalsaison beendet, also entweder für das nächste Jahr merken oder einfach mal in Hamburg vobeischauen. Es lohnt sich.
© Nordevents (Antje und Wolfgang Karg) – Food
Fazit: Brennende Sonne, Schwüle und leichter Regen. Vom Wetter her gab es eigentlich nichts zu meckern. Hier möchten wir Sanitäts- und Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr positiv erwähnten, die auch zum Gelingen eines solchen Festivals beitragen. Sie waren mit dem Ablauf zufrieden und lobten die Fans. Die Security auf dem Deichbrand war immer freundlich und insbesondere die Security vor der Fire Stage tanzte mit und wurden nicht müde, die Zuschauer zum Tanzen und Mitklatschen zu animieren.
Das weltweite IT-Problem hatte zwar nur geringe Auswirkungen auf das Festival, macht uns aber mal wieder klar, wie verletzlich und abhängig wir von Monopolisten wie Microsoft und anderen sind. Wenn an nach dem Festival wieder zur Ruhe gekommen ist, sollte man sich mal Gedanken machen, wie eine hybride Kriegsführung unser Leben schnell verändern kann.
Nicht zuletzt bedanken wir uns beim Deichbrand Presseteam. Heiko, Lena, Lukus, Nele – um nur einige zu nennen – ihr seid die Besten im Norden.
Neben einigen unbekannten Interpreten und auch Neulingen im Deichbrand-Setting waren meist wieder die Interpreten zu sehen, die sich seit Jahren die Klinke in die Hand geben. Für solche, die wie wir seit 2011 das Festival begleiten, wird es schon langweilig, die eine oder andere Band das siebte oder achte Mal zu sehen. Hier sollte mal frischer Wind in die bestätigten Acts kommen. Dann schauen wir mal, wer so alles beim nächsten Deichbrand vom 17. – 20. Juli 2025 dabei ist. Wir freuen uns jedenfalls auf`s 20 Jährige. Trotz steigender Kosten in allen Bereichen hat man sich dazu entschieden, mit den gleichenTicketpreisen wie in den letzten zwei Jahren an den Start zu gehen.
1 Gedanke zu „Deichbrand Festival 2024 – Der Sonntag“
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